Grenzen verschieben, weiter wachsen

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Shopper sind flüchtige Wesen. Je größer die Angebotsvielfalt und je fragmentierter die Handelslandschaft, desto rascher sinkt ihre Loyalität. Und obgleich sie mehr Läden als früher besuchen, geben sie doch pro Einkauf weniger Geld aus. Der traditionelle Einzelhandel wächst nicht mehr so wie in der Vergangenheit – laut Statistischem Bundesamt zuletzt preisbereinigt um gerade einmal 1,1 Prozent. Nachhaltiges Wachstum, Profitabilität und Wettbewerbsfähigkeit müssen daher stärker als bisher auch aus anderen Quellen außerhalb des Kerngeschäfts („beyond retail“) generiert werden. Einige große Handelsketten und Discounter machen ihrer Kundschaft bereits Zusatzangebote weit über ihren klassischen Warenverkauf hinaus. Im Portfolio haben sie Verbraucherdienstleistungen wie Versicherungen, Leasing, Kredite, Reisen, Bildung, Reparatur und Renovierung. Aber auch mit B2B-Angeboten, z.B. Marktplätzen, Retail Media, Logistik as a Service oder Recyclingdiensten, steigern sie ihre Umsätze und Margen.

Ganze Ökosysteme können so entstehen. Kundinnen und Kunden belohnen ein solches System im Einzelhandel mit steigender Loyalität und einem größeren Anteil des Händlers an ihren Gesamtausgaben (Share of Wallet). Mehr noch: Branchennahe Dienstleistungen zeigen derzeit ein höheres Wachstums- und Ertragspotenzial als das traditionelle Einzelhandelsgeschäft. Die über den klassischen Warenverkauf hinausgehenden Aktivitäten könnten 2028 bereits 16 Prozent des Umsatzes und 28 Prozent der Rentabilität europäischer Einzelhändler ausmachen – ein Wachstum von 15 bzw. 40 Prozent.

Die besten Voraussetzungen zum Aufbau eines Ökosystems haben etablierte, markenbekannte Händler. Denn sie besitzen drei wesentliche Stärken:

Kundenvertrauen. Große Namen haben Strahlkraft. Das zeigt eine McKinsey-Studie unter mehr als 6.000 Befragten in Europa. Danach sind 60 Prozent bereit, von ihren aktuellen Dienstleistern zu Angeboten namhafter Handelsunternehmen zu wechseln, sollten diese entsprechende Leistungen anbieten. Günstiger kann man Neukunden kaum generieren. Beispiel Finanzdienstleistungen: Jeder Neukunde kostet eine Bank im Handelsökosystem nur die Hälfte dessen, was reine Finanzunternehmen für die Akquise kalkulieren.

Kundenzugang. Im Gegensatz zu vielen anderen Branchen findet der Kundenverkehr im Einzelhandel sowohl on- als auch offline statt. Das ermöglicht die rasche Skalierung von Zusatzgeschäft bei geringerem Kapitalbedarf (Capex).

Kundenwissen. Wer seine Kundenanalyse und IT im Griff hat, zieht geldwerte Erkenntnisse aus Transaktionen, Produktkonsum und Verhalten. Auf dieser Basis lassen sich Angebote individualisieren und Preise präziser kalkulieren.

Was ein Ökosystem ausmacht

Das Ansiedeln individuell betriebener Geschäfte unter dem Dach eines Kernunternehmens ist noch kein Ökosystem. Es ist ein Konglomerat. In Ökosystemen hingegen greifen die Geschäfte ineinander und stimulieren sich gegenseitig. Stets im Mittelpunkt stehen dabei die Kundenbedürfnisse, die an das Kerngeschäft des Händlers angrenzen. Der Schritt etwa vom Möbelkauf zum Aufbaudienst ist klein – im Ökosystem erhalten Kundinnen und Kunden beides aus einer Hand. So steigt der Share of Life, also der Anteil, den der einzelne Händler an der täglichen Kundeninteraktion mit Handelsunternehmen hat. Der Weg dorthin führt über ein digital und physisch vernetztes Portfolio von Angeboten über Sektoren und Branchen hinweg. Auch strategische Partnerschaften sind eine Option.

Der sogenannte „Flywheel“-Effekt gilt dabei als Goldstandard. Die Logik hinter diesem sich selbst verstärkenden Schwungrad: Erweiterte Angebote verbessern das Kundenerlebnis. Das erzeugt mehr Traffic. Der erhöhte Kundenstrom steigert die operative Effizienz und senkt die Kosten. Dies wiederum versetzt den Händler in die Lage, weitere Zusatzangebote in sein Ökosystem aufzunehmen – das Schwungrad startet von Neuem.

Vorreiter wie Internethändler Amazon machen seit Jahren vor, wie sich dieser Schwung dauerhaft erhalten und monetarisieren lässt. Im Zentrum steht der Online-Marktplatz. Alle zusätzlichen Aktivitäten zielen darauf ab, Angebot und Leistung auszuweiten, den Traffic zu erhöhen und die Kosten pro Transaktion zu senken. Zugleich wird das Unternehmen für seine Kundschaft attraktiver. Handelsunternehmen profitieren von solchen Flywheel-Effekten materiell wie immateriell. Marken, Kundendaten und Kommunikationskanäle lassen sich für das gesamte Ökosystem nutzen. Physisch gilt das auch für Filialflächen oder Logistik. Unsere Analyse der Top-40-Einzelhändler in Europa und den USA ergibt ein typisches Expansionsmuster für Unternehmen, die sich über den klassischen Einzelhandel hinaus bewegen. Dieser wellenförmige Ausbau von Zusatzgeschäft kann Händlern auch als vereinfachter Leitfaden für den Aufbau eines eigenen Ökosystems dienen.

Im B2C-Bereich dient die erste „Welle“ an Zusatzangeboten dazu, dass sich die Käuferfrequenz aus dem Kerngeschäft auf angrenzende Geschäftsfelder überträgt und eigene Fähigkeiten in neuen Segmenten aufgebaut werden können. Die Erkenntnisse und Daten daraus lassen sich dann in der zweiten Welle nutzen, um über weitere B2C-Angebote den Share of Wallet zu maximieren. Im B2B-Bereich wiederum kann das erworbene Wissen genutzt werden, um das Geschäft zu skalieren, das Ökosystem insgesamt besser auszulasten und dessen Rentabilität weiter zu steigern.

Drei Praxisbeispiele, drei Strategien

Auch wenn sich beim Aufbau von Ökosystemen klare Muster zeigen, kann sich die konkrete Ausprägung deutlich unterscheiden. Manchmal ist weniger mehr, manchmal zahlt sich Expansion aus, und dann wieder sind neue Partner die Lösung, wie die Umsetzungsbeispiele dreier Einzelhändler zeigen. Allen gemeinsam ist, dass die Zusatzangebote im Ökosystem ineinandergreifen und ein einheitliches Kundenerlebnis schaffen.

„Migros macht meh für d’Schwiiz“ - so lautet der Marken-Claim von Migros. Der Schweizer Einzelhandelsverbund aus zehn Genossenschaften ist bekannt dafür, eigene Wege zu gehen. Stets dabei im Fokus: das Leben und die Bedürfnisfelder der Kundschaft im eigenen Portfolio abzubilden. Neben dem Lebensmitteleinzelhandel verfügt das Unternehmen u.a. über eine eigene Produktionsindustrie, eine Bank, Restaurants, einen Online-Fachhandel, eine Apotheken- und Ärztekette, Fitness- und Wellnessanlagen sowie Bildungsangebote. Im Geschäftsbericht 2024 gab Migros seine neue strategische Ausrichtung bekannt: Konzentration der Gruppe auf die Geschäftsfelder Detailhandel Lebensmittel (inklusive Industrie), Detailhandel Nonfood, Gesundheit und Finanzdienstleistungen. Zudem liegt derzeit besonderes Augenmerk auf der Stärkung der schweizweiten Präsenz. Das Ziel: Mehr für die bestehende Schweizer Kundschaft tun und gleichzeitig das Ergebnis weiter verbessern, wie CEO Mario Irminger in einem Interview mit der Luzerner Zeitung betont.

Schwarz-Gruppe: „Dinge zugänglich machen“ - so könnte das Motto der Schwarz-Gruppe lauten. Im Gegensatz zu den Schweizern ist das Ökosystem der deutschen Muttergesellschaft von Lidl und Kaufland geprägt durch Geschäftsfelderweiterungen in Richtung B2B und vertikale Integration. Beispiele sind das Recycling-Unternehmen PreZero, die Fracht- und Logistiktochter Tailwind sowie der Dienstleister Schwarz Digits, der neben unternehmenseigener IT auch Cybersecurity- und Cloud-Dienste bereitstellt. Im Zentrum des Ökosystems der Schwarz-Gruppe stehen Lidl und Kaufland, deren Zusatzgeschäft primär jenseits der stationären Grenzen angesiedelt ist. Sie haben ihr Leistungsangebot auf Online-Marktplätze, Mobilfunk- und Energiedienstleistungen ausgeweitet. Ziel ist ein erhöhtes Level an Innovationsfähigkeit und Resilienz, um wechselnde Kundenbedürfnisse und Anforderungen an die Produktqualität jederzeit erfüllen zu können.

OBI: „Alles machbar“ - dieses Credo gilt bei OBI nicht nur für Heimwerker, sondern auch für die neue Geschäftsstrategie. Vor einem Jahr hat die Baumarktkette ihr klassisches Warenangebot ausgeweitet und sogenannte End-to-End-Solutions eingeführt: Im Markt lässt sich jetzt nicht mehr nur Material einkaufen, sondern gleich auch der passende Handwerker dafür finden – etwa beim Kauf einer Solaranlage fürs Dach: OBI nennt lokale Fachanbieter, die das Projekt installieren und in Betrieb setzen. Laut CEO Sebastian Gundel funktioniert die Kombination aus eigener Markenbekanntheit und externer Fachkompetenz gut: Bereits nach 18 Monaten leistete das Modell einen beachtlichen Beitrag zum Gesamtumsatz des Unternehmens. Weitere Ertragsquellen im Ökosystem von OBI sind der Produktpartner-Marktplatz und Retail Media.

So divers Handelsökosysteme im Markt sein können – der Weg dorthin geht zumeist über zwei Flugebenen: die Entwicklung einer übergreifenden Ökosystemstrategie und den schrittweisen Aufbau jedes einzelnen Zusatzgeschäfts.

Wo spielen, was nutzen, wie gewinnen?

Zunächst gilt es sicherzustellen, dass sich das Unternehmen auf die richtigen Wachstumsfelder konzentriert und die Voraussetzungen für den Aufbau eines Ökosystems gegeben sind. Folgende Schlüsselfragen sind bei der Entwicklung einer Ökosystemstrategie zu beantworten: Wo lohnt sich der Einstieg („where to play“)? Zunächst werden die vielversprechendsten angrenzenden und neuen Geschäftsmarktsegmente im B2C- und B2B-Bereich ermittelt. Dabei helfen Analytiktools wie der Growth Scan von McKinsey, der mittels KI binnen ein bis zwei Tagen die attraktivsten Geschäftsfelder identifiziert.

Ziel sollte es sein, ein starkes internes Technologieteam aufzubauen und gleichzeitig ein diszipliniertes Vendor Management für eingekaufte Leistungen zu etablieren. Dies ist insbesondere an kritischen Punkten wichtig. Laufende Cloud-Migrationen beispielsweise können rasch die Kosten treiben und erfordern daher ein strengeres und transparenteres Kostenmanagement. Auf der anderen Seite kann Automatisierung zu erheblichen Einsparungen und Produktivitätsverbesserungen führen, ebenso der Einsatz von Agentic AI oder die neueste Generation von Engineering-Praktiken wie z.B. GenAI-unterstütztes Coding. Alle Transformationsmaßnahmen sollten daher auf ihre Einspar- und Wertsteigerungspotenziale überprüft werden. Eine grenzüberschreitende Harmonisierung der Unternehmenstechnologie kann außerdem dazu beitragen, Doppelausgaben zu vermeiden.

Was können wir nutzen („what to utilize“)? Händler haben gegenüber angestammten Anbietern oft einen strategischen Zugangsvorteil zu einem neuen Segment, z.B. höheres Kundenvertrauen, besseres Kundenwissen oder eine größere Markenbekanntheit. Diese Ressourcen gilt es darauf zu prüfen, ob sie geeignet sind, das Segment erfolgreich zu besetzen.

Wie werden wir erfolgreich („how to win“)? Um die priorisierten Marktsegmente erfolgreich zu erschließen, braucht es eine klar formulierte Vision und ein Ambitionsniveau – einschließlich einer ersten Hypothese zu den vielversprechendsten Geschäftsmodellen. Konkret heißt das: Erst mit eindeutigen Zielen in Bezug auf Umsatz und Profitabilität lässt sich der Investitions- und Ressourcenbedarf realistisch ermitteln. Das neue Geschäft braucht zudem ein differenzierendes Element, um sich von Wettbewerbern abzugrenzen – beispielsweise ist es günstiger oder es bietet bessere Leistung in einer kaufentscheidenden Dimension.

Wie machen wir es möglich („how to enable“)? Ein funktionierendes Ökosystem erfordert stabile Grundbausteine. Dazu gehören: ein integriertes Kundenmanagement, schlanke Portfolio-Governance, ein standardisierter Markteintritt sowie die notwendigen Talente und organisationalen Fähigkeiten für den Geschäftsaufbau. Manche Unternehmen übersehen bei dieser herausfordernden To-Do-Liste, dass sie das Rad nicht neu erfinden müssen. Ein erfolgreiches Ökosystem lässt sich auch in Partnerschaft aufbauen. Hier helfen ein solides Netzwerk und die richtige Partnerstrategie. Auch gezielte programmatische M&A sind ein effektives Instrument, um benötigte Fähigkeiten einzukaufen oder neue Marktpositionen durch die Übernahme etablierter Player zu besetzen.

Geschäftsaufbau in vier Schritten

Steht die übergeordnete Ökosystemstrategie fest, geht es darum, die priorisierten Marktsegmente zu erschließen. Für die rasche Enwicklung von Geschäftsideen hat McKinsey die KI-basierte Plattform LeapAI etabliert, die Wertpotenziale, Markttrends, Wettbewerber sowie Kundenzielgruppen analysiert und daraus passgenaue Konzepte für das neue Geschäft entwickelt. Bei der konkreten Umsetzung hat sich in der Beratungspraxis zudem das LEAP-Framework bewährt – hier illustriert am Beispiel der Schaffung eines zusätzlichen Gesundheitsangebots für Einzelhandelskund:innen. Es funktioniert in vier Schritten:

Breakout. Definition der ökonomischen Ziele für das spezifische Segment und Auswahl relevanter Anwendungsfälle (z.B. Apotheken für ein Geschäftsmodell im Gesundheitsbereich).

Blueprint. Erstellung eines Geschäftsplans für jeden Anwendungsfall, Einbindung ins Ökosystem und Bereitstellung der notwendigen finanziellen Mittel sowie anderer Ressourcen (z.B. Zukauf von oder Partnerschaften mit bestehenden Apotheken).

Build. Markteinführung des Zusatzangebots und Test des Flywheel-Effekts auf das gesamte Ökosystem (z.B. Launch der ersten 20 In-Store-Apotheken und Pilotierung eines Online-Shops).

Boost und Branch. Skalierung des neuen Geschäftsmodells auf mehr Partner oder höheres Traffic-Volumen und Expansion in angrenzende Bereiche, um die Kapitalrendite zu steigern (z.B. regionale Ausweitung der Apotheken-Shops und Einführung einer eigenen Health-Marke).

Lohnt sich der Aufwand? Ja. Denn mit kaum einem anderen Wachstumsmodell lassen sich Umsatz und Ertrag derzeit in vergleichbarer Größenordnung bei kontrollierbarem Ressourceneinsatz steigern.

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