Die europäische Automobilindustrie steht vor der größten Bewährungsprobe ihrer langjährigen und erfolgreichen Geschichte. Durch den Übergang zur Elektromobilität und softwarebasierten Fahrzeugen, ungünstige Standortbedingungen sowie neue Wettbewerber und Handelsbedingungen könnten bis 2035 bis zu einem Drittel der Wertschöpfung der Industrie – 440 Milliarden Euro – auf dem Spiel stehen. Um wettbewerbsfähiger, resilienter und nachhaltiger zu werden, investiert die Industrie schon heute 150 Mrd. Euro jährlich in Zukunftstechnologien wie E-Mobilität und softwarebasierte Fahrzeuge. Um im Wettbewerb mitzuhalten, sollte die Industrie auch ihre Entwicklung deutlich beschleunigen und Kosten senken. Zudem gilt es, eine wettbewerbsfähige europäische Batteriewertschöpfungskette aufzubauen und Partnerschaften für kritische Rohmaterialien zu schließen. Zudem sollten die Rahmenbedingungen für die Industrie verbessert werden – durch den massiven Ausbau der Ladeinfrastruktur, eine Verbesserung der Faktorkosten am Standort Europa sowie eine realistische Diskussion um den effizientesten Weg zur Klimaneutralität. Dies geht aus der neuen Studie „A new era: An action plan for the European automotive industry“ hervor, in der die Unternehmensberatung McKinsey & Company zur IAA 2025 in München neun Handlungsfelder für die Industrie skizziert hat.
Starkes Fundament – doch mutige Schritte jetzt erforderlich
„Trotz des Gegenwinds – die europäische Autoindustrie ist mit ihrem Beitrag von 7% zum europäischen Bruttoinlandsprodukt immer noch das Rückgrat der europäischen Volkswirtschaft“, sagt Harald Deubener, Co-Autor der Studie und Leiter der weltweiten Automobilberatung bei McKinsey. „Allerdings machen die ungünstigen geopolitischen Faktoren und die im Vergleich zu China und den USA schwierigeren Standortbedingungen die Transformation komplex.“
Die Industrie steht vor einigen Herausforderungen:
- Technologie: Aktuell entsteht bei einem in Europa hergestellten und verkauften Fahrzeug mit Verbrennungsmotor 85-90% der Wertschöpfung in Europa. Bei einem von einem europäischen Hersteller in Europa produzierten batterieelektrischen Fahrzeug sinkt der Anteil auf 70-75%, da vor allem die Batterien oft aus Asien bezogen werden. Ein von einem nicht-europäischen Hersteller in Europa produziertes E-Auto liegt noch bei 55-60%, ein importiertes batterieelektrisches Fahrzeug nur noch bei 15-20% Anteil europäischer Wertschöpfung.
- Marktanteile: Europäische Hersteller haben seit 2017 ein Fünftel ihres weltweiten Marktanteils verloren. Mit 24% Marktanteil liegen europäische Anbieter nun gleichauf mit chinesischen Herstellern und Tech-Unternehmen.
- Geopolitik: Die Energiepreise sind in Europa doppelt so hoch wie in den USA und China. Zudem ist die Abhängigkeit von China bei Batterien hoch – 80% der weltweiten Wertschöpfungskette wird von China dominiert; zudem kommen 95% der Importe von seltenen Erden aus China.
- Regulatorisches Umfeld: Die Genehmigungszeiten sind in Europa dreimal so lang wie in den USA und zehnmal so lang wie in China – zudem gibt es doppelt so viele regulatorische Vorgaben, die auf die Autoindustrie einwirken.
„Die europäische Autoindustrie steht immer noch auf einem starken Fundament – auf dieser Basis muss sie jetzt aber mutig umsteuern“, so Patrick Schaufuss, Co-Autor der Studie und Partner bei McKinsey. Die Studie nennt neun Handlungsfelder, auf die es jetzt ankommt:
- Produktoffensive: Bis 2032 plant die Industrie, 350 neue E-Fahrzeuge auf den Markt zu bringen und investiert dafür aktuell 150 Milliarden Euro im Jahr – sowohl in Forschung & Entwicklung als auch in neue Fertigung, z.B. für Batterien.
- Kostenposition und Schnelligkeit: Neue Anbieter warten mit Fahrzeugpreisen auf, die 20 bis teilweise 50 Prozent unter denen etablierter Unternehmen liegen. Chinesische Hersteller haben ihre Produkteinführungszeiten zum Teil auf nur zwei Jahre verkürzt – europäische Anbieter brauchen oft doppelt so lang.
- Regionale Kundenorientierung: Die Kundenvorlieben unterscheiden sich weltweit erheblich – einheitliche globale Fahrzeugplattformen funktionieren nicht mehr. Nur 18% der Chinesen geben an, dass ihr nächstes Fahrzeug ein Verbrenner sein wird – verglichen mit 49% in Europa und 70% in den USA. Zudem sind fortgeschrittene Fahrassistenzsysteme für chinesische Käufer – vor allem im Premiumsegment – ein wichtiges Kaufkriterium; deutlich stärker als in Europa.
- Batterien: Europa steht aktuell nur für 10% der Zellproduktion. Um einen Paradigmenwechsel einzuleiten und den Bedarf von 600 bis 800 GWh 2030 zu decken und unabhängiger zu werden, bedarf es einer engeren Zusammenarbeit von Herstellern, Zulieferern und politischen Entscheidungsträgern. Gezielte Partnerschaften und Technologietransfer mit den führenden Anbietern können helfen, um mithalten zu können.
- Zukunftsfelder: Europa sollte in sieben erfolgskritischen Technologien eine Vorreiterrolle einnehmen. Bei E-Antriebssträngen ist der Markt mit über 50 Anbietern aktuell stark fragmentiert - eine Konsolidierung und Standardisierung ist vonnöten. Zudem ergeben sich auch aus dem Komponentenmarkt für Verbrenner immer noch Chancen – dieser wird 2035 über 100 Mrd. Euro groß sein. Auch eine Vorreiterrolle bei alternativen Kraftstoffen bietet sich an. Zudem wird sich der Wertbeitrag von assistiertem und autonomen Fahren bis 2035 vervierfachen – nötig dafür ist auch eine starke Softwarekompetenz. Hier liegen neue Unternehmen mit 40% Anteil von Softwareingenieuren innerhalb der F&E-Funktion vorne. Chancen gibt es auch bei der Halbleiterproduktion – weniger als 10% der Front-End-Produktion liegt in Europa; und bei der Kreislaufwirtschaft: Die Hälfte der Batterien könnte 2040 aus recyceltem Material hergestellt werden.
- Rohstoffe: Von den von der EU identifizierten 34 kritischen und strategischen Rohstoffen sind 25 relevant und 14 unabdingbar für die Autoindustrie. China kontrolliert viele dieser Rohstoffe – 40% der globalen Minenkapazitäten für Batteriematerialien und 80% des Refinings. Lokale Kapazitäten und neue Partnerschaften könnten helfen, die Abhängigkeit zu reduzieren. Zudem gilt es, stärker auf nachhaltig abgebaute Rohstoffe zu setzen.
- Infrastruktur: Um Europa auf einen nachhaltigen Nullemissionspfad zu bewegen, muss die Ladeinfrastruktur um den Faktor 6 bis 2035 ausgebaut werden – 350 Mrd. Euro sind dafür notwendig. Schnellere Genehmigungszeiten sind vonnöten, außerdem ein Ausbau des Stromnetzes an neuralgischen Punkten.
- Emissionen: Europa hat ambitionierte Dekarbonisierungsziele gesetzt – allerdings entwickelt sich das E-Auto-Ökosystem noch nicht so schnell wie nötig, um diese Ziele zu erreichen. Nur 20% der Käufer in Europa erwägt ein batterieelektrisches Fahrzeug. Wenn diese Zurückhaltung anhält, kann dies zu einem starken Altern der Verbrennerflotte auf den Straßen mit entsprechend hohen Emissionen führen – der so genannte „Havanna-Effekt“. Eine Diskussion über den effizientesten Pfad hin zur Nullemissionsmobilität – durch günstigere E-Autos und ein breiteres Portfolio an Hybriden (von Plugin-Hybriden bis hin zu Range Extendern) sowie der Kompensation möglicher Restemissionen – kann helfen, einen wirtschaftlich tragfähigen Übergang zu gestalten.
- Faktorkosten: Hohe Energie- und Produktionskosten beeinträchtigen die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Hersteller und Zulieferer massiv – Initiativen zur Reduzierung dieser Kosten hätten einen signifikanten Effekt. Zudem könnten maßgeschneiderte Programme zur Anwerbung von Talenten für Zukunftsthemen, gezielte Förderprogramme rund um die E-Mobilität sowie Innovationszentren helfen, die globale Wettbewerbsposition zu verbessern.