Nachhaltigkeit in der Krankenversicherung

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Krankenversicherungen sind ein integraler Bestandteil des Gesundheits- und Pflegesystems und nehmen deshalb einen besonderen Platz in der Diskussion über nachhaltiges und verantwortungsvolles Handeln von Unternehmen ein. Eine klare Aufstellung und proaktives Handeln in Bezug auf Nachhaltigkeit sind für Krankenversicherer somit unerlässlich. Zudem hat eine aktuelle McKinsey-Umfrage ergeben, dass Krankenversicherer von ihren Versicherten insbesondere bei ökologischen und sozialen Themen in die Pflicht genommen werden. Krankenversicherern bietet dies die Chance, ihre Rolle in der Gesellschaft weiter auszubauen und Nachhaltigkeit im Gesundheitswesen voranzutreiben. Potenzial dafür besteht in der gesamten Wertschöpfungskette – und sollte von den Krankenversicherungen systematisch erschlossen werden.

Zeit zu handeln – Nachhaltigkeit als „Muss“ in der Krankenversicherung
Nachhaltigkeit ist nicht länger ein Zukunftsthema, sondern bereits heute ein Imperativ auf der Agenda von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Vor allem die Anforderungen in Bezug auf nachhaltiges unternehmerisches Handeln (ESG – Ökologie, Soziales, Unternehmensführung) haben branchenübergreifend an Bedeutung gewonnen.

In der Gesellschaft hat sich das Bewusstsein für den Klimawandel und seine langfristigen Folgen erheblich geschärft. Das spiegelt sich deutlich im Konsumverhalten wider: Präferiert werden zunehmend Unternehmen, die erfolgreich ihren CO2-Ausstoß reduzieren, nachhaltiges Handeln fördern sowie umweltfreundliche Produkte und Services entwickeln.

Auch Politik und Verbände stehen vermehrt unter Druck, das Thema Nachhaltigkeit aufzugreifen.

Die Anzahl an ESG-Richtlinien steigt – und auch Branchenzusammenschlüsse in der Versicherung treiben gezielt Industriestandards für Nachhaltigkeit voran. Zu den Richtlinien gehören unter anderem die Emissionsbilanzierung, Net-Zero-Verpflichtungen für Versicherungsportfolios und Reportingstandards. Einige Krankenversicherer haben sich bereits über die NZAOA (Net Zero Asset Owner Alliance) dazu verpflichtet, bis 2050 (netto-)emissionsfreie Anlageportfolios vorzuweisen, und sind damit Vorreiter in diesem Bereich.

Die starke Verankerung von Nachhaltigkeit im Bewusstsein der Versicherten bestätigt auch eine Studie von McKinsey Deutschland von Dezember 2022. Dabei wurden mehr als 1.000 Teilnehmende, jeweils etwa zur Hälfte privat und gesetzlich versichert, zum Thema Nachhaltigkeit in der Krankenversicherung befragt. Fast 70% von ihnen empfinden Nachhaltigkeit als besonders relevant und geben an, dass ihnen das Thema in den vergangenen fünf Jahren wichtiger geworden ist. Etwa die Hälfte der Befragten kann sich gemäß eigener Aussage vorstellen, einen höheren Preis für nachhaltige Produkte zu zahlen.

Noch scheint das Bewusstsein für Nachhaltigkeit im Bereich Versicherungen nicht so groß zu sein wie in anderen Branchen. Dies dürfte sich allerdings in naher Zukunft ändern, denn es wird erwartet, dass die Nachhaltigkeitspräferenzen der bislang „Unentschlossenen“ wachsen – dies wäre konsistent mit der Entwicklung in anderen Branchen, z.B. in der Konsumgüterindustrie.

Krankenversicherer sollten deshalb schon jetzt in der Lage sein, sich beim Thema Nachhaltigkeit wettbewerbsfähig aufzustellen – andernfalls steigt das Risiko, den Anschluss an die Konkurrenz zu verlieren. Zahlreiche Krankenversicherungen bemühen sich auch bereits, ihre Geschäftsmodelle in Bezug auf Nachhaltigkeit zu prüfen und sich entsprechend neu auszurichten.

Nachhaltigkeit – der rote Faden in der gesamten Wertschöpfungskette von Krankenversicherungen
Die McKinsey-Studie zum Thema Nachhaltigkeit in der Krankenversicherung gibt neben allgemeinen Trends auch Aufschluss über konkrete Kundenanforderungen an Krankenversicherer. Dabei werden Handlungsfelder in der gesamten Wertschöpfungskette deutlich – einige zentrale Erkenntnisse werden im Folgenden vorgestellt. Durch die Ausrichtung auf ESG, eine gezielte Kommunikation sowie Transparenz gegenüber Versicherten lassen sich neben der Übernahme sozialer bzw. gesellschaftlicher Verantwortung auch eine höhere Effizienz (z.B. reduzierter Materialverbrauch, digitale Kommunikationswege) erreichen und neue Kundengruppen (insbesondere solche mit hohem Nachhaltigkeitsbewusstsein) erschließen.

Vertrieb und Produktauswahl transparent und glaubwürdig gestalten
Bereits im Vertrieb zeigt sich, dass Versicherer Nachhaltigkeitsaspekte noch nicht ausreichend berücksichtigen. Rund 25% der Befragten sagen, dass sie Nachhaltigkeit in der Krankenversicherung generell für relevant erachten; etwa die Hälfte der Krankenversicherten ist zurzeit noch unentschlossen. Bemerkenswert ist: Nur 6% der Befragten geben an, von ihrem Krankenversicherer aktiv im Produktabschlussprozess über Nachhaltigkeitsaspekte informiert worden zu sein.

Hinzu kommt, dass ca. 85% der Befragten ihren Krankenversicherer noch nicht explizit als transparent wahrnehmen – rund 30% ist dies aber schon heute wichtig oder sehr wichtig. Das deutet neben der möglichen Integration von Nachhaltigkeit in Produkten und Services auf einen Nachholbedarf in puncto Kommunikation und Transparenz hin. Daher sollten Versicherer gezielt auf digitale Informationskanäle setzen: Über 50% der Befragten geben an, dass sie vor allem digital (via App oder Website) über Nachhaltigkeitsthemen informiert werden wollen; dabei bestehen keine deutlichen Unterschiede zwischen den Altersklassen.

Darüber hinaus spielt die Glaubwürdigkeit des ESG-konformen Geschäftsmodells von Krankenversicherern eine wichtige Rolle: Rund 30% der Befragten möchten schon heute die Nachhaltigkeit ihrer Krankenversicherung durch Zertifizierungen bestätigt wissen.

Preisgestaltung und Underwriting mit Nachhaltigkeit verknüpfen
Insbesondere in der Preisgestaltung bzw. im Underwriting zeigt sich, dass das Thema Nachhaltigkeit auch in der Krankenversicherung die Zahlungsbereitschaft beeinflussen kann. Rund 40% der Befragten geben an, mehr für ihre Krankenversicherung bezahlen zu wollen, wenn sich der Versicherer nachweislich und glaubwürdig für Nachhaltigkeit einsetzt (indem er z.B. Versicherungsprämien in „grüne“ Anlageklassen investiert).

Vorsorge und Prävention als wichtigen Aspekt von Nachhaltigkeit behandeln
Bei den Themen Vorsorge und Prävention lassen die Befragten klare Präferenzen erkennen, auf die die Krankenversicherer ihre Angebote zuschneiden sollten. Die größte Aufmerksamkeit gebührt dabei dem Thema „Unterstützung gesundheitlicher Prävention“ als wichtigstem Nachhaltigkeitsaspekt. Vor allem für die Altersklasse 40 bis 64 Jahre ist das Thema laut Umfrage besonders relevant. Dies gilt es, bei entsprechenden Kundengruppen aufzugreifen und in die Produkte sowie Services zu integrieren – mit fundierten Informationen, Transparenz und konkretem Nachhaltigkeitsbezug.

Services und Leistungen fair und ressourcenschonend erbringen
Ähnlich wie bei Vorsorge und Prävention sollten Krankenversicherungen weitere, von Versicherten als wichtig empfundene Nachhaltigkeitsthemen aufgreifen und transparent fördern. Als Bestandteil des Gesundheitssystems können Krankenversicherer laut Umfrage vor allem punkten, indem sie ihre soziale und gesellschaftliche Verantwortung proaktiv wahrnehmen. Hier nennen die Befragten klare Prioritäten: Höchste Relevanz hat mit 20% das „Fördern fairer Löhne des Krankenhaus- und Pflegepersonals“. Auch die „Förderung von Familien und Mitarbeitenden“ wird vor allem von Befragten der Altersklasse 26 bis 39 Jahre als Ansatz für mehr Nachhaltigkeit in der Krankenversicherung genannt. Im Krankenversicherungsbetrieb, insbesondere im Leistungsmanagement, ist den Befragten zudem ein geringerer Materialverbrauch wichtig. Dies steht auch im Einklang mit den Effizienzzielen vieler Versicherer.

Kundentreue durch Nachhaltigkeit erhöhen
Auch beim Thema „Kundentreue“ zeigt die Umfrage, wie wichtig Nachhaltigkeit ist, um langfristig wettbewerbsfähig zu bleiben: Fast 15% der Befragten halten es für wahrscheinlich bzw. sehr wahrscheinlich, ihren Versicherer zu wechseln, wenn dieser nicht nachhaltig handelt. Rund 40% haben diesbezüglich noch keinen klaren Standpunkt – jedoch dürfte bei den „Unentschlossenen“ die Wechselbereitschaft zunehmen. Verglichen mit den durchschnittlichen jährlichen Abwanderungsquoten in der Krankenversicherung offenbart diese Erkenntnis nicht nur den Handlungsbedarf für einzelne Krankenversicherer mit bisher unklarem Nachhaltigkeitsversprechen, sondern sie birgt auch deutliche Chancen für jene, die das Thema bereits glaubwürdig aufgegriffen und im Geschäftsmodell verankert haben.

Der hier vorgestellte Auszug aus den Umfrageergebnissen unterstreicht, dass Nachhaltigkeit in der Versicherungsbranche zunehmend an Relevanz gewinnt und somit die Formulierung strategischer Prioritäten und die Ausrichtung der gesamten Wertschöpfungskette auf Nachhaltigkeit schon heute klar nachgefragt werden. Dennoch haben Krankenversicherer bis jetzt nur vereinzelt Maßnahmen ergriffen, um Potenziale rund um das Thema Nachhaltigkeit auszuschöpfen.

Unterschiedliche Bevölkerungsgruppen haben unterschiedliche Präferenzen
Da Nachhaltigkeit ein weites Feld ist, lohnt sich ein genauerer Blick auf die einzelnen Dimensionen von ESG. Für ca. 30% der Befragten sind alle drei ESG-Dimensionen in Bezug auf Krankenversicherer gleichermaßen wichtig. Für Befragte, denen nur eine Dimension besonders wichtig ist, stellt „Soziales“ mit ca. 25% die meistgenannte ESG-Dimension dar. Dies gilt nahezu gleichermaßen sowohl für privat als auch gesetzlich Versicherte. Themen, die Versicherer in diesem Bereich angehen können, sind die Förderung fairer Löhne für Krankenhaus- und Pflegepersonal, die Unterstützung gesundheitlicher Prävention sowie die Förderung von Familien und Mitarbeitenden.

Zweitwichtigste ESG-Dimension in Bezug auf Krankenversicherungen ist Ökologie. Als wichtig empfunden werden in diesem Zusammenhang Initiativen zum Schutz von Biodiversität und Ökosystemen, betriebliche Klimaneutralität sowie ein geringer Materialverbrauch des Versicherers. Kernthemen in Bezug auf die ESG-Dimension „Unternehmensführung“ sind: Selbstverpflichtung zu ökologischen und sozialen Zielen, politisches Engagement und Mitgestaltung von Gesetzen zur Nachhaltigkeit sowie das Vertreten und Einhalten eines klaren Standpunkts zu Nachhaltigkeitsthemen.

Welche Relevanz einzelnen Nachhaltigkeitsthemen beigemessen wird, hängt unter anderem von demografischen Eigenschaften der Befragten ab, wie die Umfrageergebnisse zeigen. So bietet eine Differenzierung der ESG-Präferenzen in Bezug auf Krankenversicherungen, etwa nach Alters- und Einkommensgruppe, zusätzliche Erkenntnisse. Die Dimension „Soziales“ spielt z.B. insbesondere in niedrigeren Einkommensklassen (gemessen am durchschnittlichen Nettohaushaltseinkommen in Deutschland) eine wichtige Rolle. Bei höheren Haushaltseinkommen hingegen gewinnt der Aspekt „Ökologie“ an Bedeutung. Das Alter scheint hingegen nur einen geringen Effekt auf die ESG-Präferenzen in Bezug auf Krankenversicherungen zu haben.

Auch innerhalb der einzelnen Gruppen sind verschiedene Themenschwerpunkte erkennbar: Neben dem sozialen Aspekt der fairen Löhne sind gesundheitliche Prävention und Förderung von Familien und Mitarbeitenden den Befragten aus den niedrigeren Einkommensgruppen besonders wichtig. Den Befragten höherer Einkommensgruppen – mit mehrheitlicher Präferenz für die ESG-Dimension Ökologie – sind vor allem Investitionen in nachhaltige Anlageklassen wichtig. Dies unterstreicht die Relevanz der Kapitalallokation für diese Einkommensklassen.

Die hier vorgestellten Umfrageergebnisse machen deutlich, dass das Thema Nachhaltigkeit in der Krankenversicherung stark von segmentspezifischen Präferenzen geprägt ist. Krankenversicherer müssen ihre Zielgruppen daher maßgeschneidert ansprechen, um sie effektiv zu erreichen und sich überzeugend im Markt positionieren zu können.

Ganzheitliche Transformation – Krankenversicherer in drei Schritten systematisch auf Nachhaltigkeit ausrichten
Um einen Krankenversicherer auf Nachhaltigkeit auszurichten, gilt es, klare und realistische ESG-Ziele zu definieren, nach ihnen zu handeln und sie transparent zu kommunizieren. Dabei sollten Krankenversicherer ihr Geschäftsmodell glaubwürdig und entlang eines klaren Evolutionspfads auf Nachhaltigkeit ausrichten.

- Kurzfristige Must-haves. Die am Markt geltenden, verpflichtenden ESG-Standards und -Berichtspflichten werden vollständig eingehalten. Darüber hinaus ist eine Selbstverpflichtung zur Einhaltung zusätzlicher Standards möglich.
- Mittelfristige Leuchttürme. Auf kurze bis mittlere Sicht wird mindestens ein ESG-Fokusthema ausgewählt („Leuchtturm-Thema“), z.B. die Förderung fairer Löhne im Gesundheitsbereich, die Selbstverpflichtung zu ökologischen und sozialen Zielen oder Initiativen zum Schutz der Biodiversität. Dazu werden ein Zielbild und ein Umsetzungsplan entwickelt.
- Umfassende Integration. Nachhaltigkeit wird als wesentliche Säule in die Unternehmensstrategie integriert. Basis dafür ist eine vollumfängliche Prüfung des bestehenden Geschäftsmodells auf Nachhaltigkeit. Dabei werden auch mögliche Potenziale zur nachhaltigen Wertgenerierung ermittelt.

Eine beständige, glaubhafte Integration von ESG in den Unternehmenskern, inklusive eines klaren Wertversprechens an Versicherte, erfordert eine umfassende Integration in die gesamte Wertschöpfungskette. Krankenversicherungen, die sich klar positionieren und somit ihr ESG-Potenzial erschließen, können im Einklang mit den Ergebnissen der hier vorgestellten Umfrage im Markt einen Wettbewerbsvorteil erlangen.

Autor:innen: Florian Niedermann ist Senior Partner im Stuttgarter Büro von McKinsey, Philipp Schaumburg ist Partner im Münchner Büro, Konstanze Reinecke-Schneider ist Partnerin im Kölner Büro, Christian Heinemeyer ist Associate Partner im Hamburger Büro und Julian Ludat ist Engagement Manager im Münchner Büro. 

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