Energiewende-Index: Deutschland wird Klimaziele 2030 nur mit Kurskorrekturen erreichen

Energiewende-Index: Deutschland wird Klimaziele 2030 nur mit Kurskorrekturen erreichen

Deutschland wird Klimaziele 2030 nur mit Kurskorrekturen erreichen - Corona-Krise wird Klimabilanz verbessern, aber nur kurzfristig - Aktualisierter Energiewende-Index von McKinsey bewertet Fortschritt der Energiewende anhand der neuen Ziele der Bundesregierung - Von 15 Zielen aktuell neun realistisch zu erreichen, allerdings vier davon auf der Kippe - Größte Herausforderungen: Elektrifizierung des Wärme- und Verkehrssektors, Ausbau der Transportnetze und erneuerbaren Energien sowie Versorgungssicherheit


Deutschland wird seine Klimaschutzziele bis 2030 nur mit größten Anstrengungen und deutlicher Kurskorrektur erreichen können. Die Corona-Krise wird sich in diesem Jahr durch sinkende CO2-Emissionen und geringeren Stromverbrauch nur kurzfristig positiv auf die Klimabilanz auswirken. Zentrale Herausforderungen bleiben weiterhin die zügige und konsequente Elektrifizierung des Verkehrs-, Wärme- und Industriesektors ebenso wie der stockende Netzausbau. Darüber hinaus müssen der Ausbau der erneuerbaren Energien wieder forciert, die Kostenspirale gebremst und drohende Probleme in der Versorgungssicherheit abgewendet werden. Zu diesem Fazit kommt McKinsey im neuesten Energiewende-Index. Bereits seit 2012 untersucht McKinsey darin halbjährlich den Status der Energiewende in Deutschland. In der neuesten Ausgabe wurden fünf der insgesamt 15 untersuchten Indikatoren ausgetauscht, da die Bundesregierung durch den Kohleausstieg und das Klimapaket neue Ziele für die Energiewende bis 2030 formuliert hat.

Auf den ersten Blick signalisiert der aktualisierte Energiewende-Index ein mögliches Erreichen der energiepolitischen Ziele: Von den 15 untersuchten Zielen sind neun als realistisch erreichbar und fünf als unrealistisch einzustufen. Der Indikator CO2e-Ausstoß hat sich erstmals in die Kategorie „leichter Anpassungsbedarf“ verbessert. Allerdings stehen vier der aktuell noch neun als realistisch eingestuften Indikatoren auf der Kippe zur Verschlechterung. 

Fünf Indikatoren mit stabil realistischer Zielerreichung 

Für fünf der 15 Indikatoren ist die Zielerreichung bis 2030 McKinsey zufolge realistisch: Dazu zählt dank eines wind- und sonnenreichen Jahres 2019 der Anteil der erneuerbaren Energien (EE) am Bruttostromverbrauch. Dieser stieg binnen Jahresfrist von 38% 2018 auf 43% 2019 – angestrebtes Ziel für 2030 sind 65%. Ebenfalls positiv fällt das Urteil aus über die Ausfallhäufigkeit in der Stromversorgung in Deutschland. Sie betrug zuletzt nur 13,9 Minuten – ein Ergebnis, das die bisherige außerordentliche Verlässlichkeit der deutschen Stromversorgung belegt.

Auch der von McKinsey neu in den Index aufgenommene Indikator Verfügbare Kapazität für Import aus Nachbarländern wird als realistisch eingestuft. Bei Bedarf kann Deutschland aus seinen Nachbarländern genügend Strom importieren und hat dafür auch die technischen Kapazitäten. Aber: Langfristig könnten sich auch bei diesem Indikator Verschiebungen ergeben angesichts der geplanten Stilllegung von Kohlekraftwerken beispielsweise in den Niederlanden.

Realistisch ist ein Erreichen der Ziele auch bei der Entwicklung der Industriestrompreise. Sie wichen zuletzt nur noch 1% vom europäischen Durchschnitt ab. Auch der neu eingeführte Indikator Gesamtenergiekosten Haushalte landet dank seiner stabilen Entwicklung in der Kategorie „Zielerreichung realistisch“. Der Indikator misst den Anteil der Energiekosten am Gesamtwarenkorb der Verbraucher . Dieser lag 2018 bei 10,2% und damit nur um 0,1% höher als 2009. Grund für das gute Abschneiden ist allerdings, dass die starken Strompreisanstiege in Deutschland durch rückläufige Preisentwicklungen auf den internationalen Öl- und Gasmärkten bislang fast vollständig ausgeglichen wurden. 

Vier Indikatoren auf der Kippe

Vier Indikatoren werden zwar aktuell als realistisch eingestuft, allerdings droht bei ihnen eine Verschlechterung. Durch deutlich verschärfte Ziele sowie strukturelle Veränderungen im deutschen Strommarkt ist bereits heute absehbar, dass diese Indikatoren aller Voraussicht nach kurz- bis mittelfristig vom Zielpfad abkommen werden:
Der Anteil der erneuerbaren Energien am Bruttoendenergieverbrauch liegt bei 16,5% und damit noch in greifbarer Nähe zum 2020-Ziel von 18%. Bis 2030 allerdings müsste der EE-Anteil doppelt so schnell ansteigen, um auch das von der Bundesregierung neu gesteckte Ziel von 30% zu erreichen. Der Ausbau von Solar- und Windkraft allein wird nach den Analysen von McKinsey dafür nicht mehr ausreichen – hierzu muss vor allem die Elektrifizierung im Transport- und Wärmesektor vorankommen. Mit 14,4% Erneuerbare-Energien-Anteil am Wärmeverbrauch hat der Indikator Sektorkopplung: Wärme bereits 2018 das 2020-Ziel von 14% überschritten; allerdings war für 2020 nur eine minimale Steigerung um 1,6% gegenüber 2010 vorgegeben. Tatsächlich tritt Deutschland bei der Dekarbonisierung des Wärmesektors seit zehn Jahren auf der Stelle. Um das 2030-Ziel von 27% zu erreichen, müsste der EE-Anteil im Wärmesektor jetzt achtmal schneller ansteigen als im vergangenen Jahrzehnt. 

2018 gab es 291.000 Arbeitsplätze in erneuerbaren Energien in Deutschland – knapp 48.000 weniger gegenüber den zuletzt veröffentlichten Zahlen von 2016. Zwar bleibt der Indikator noch immer in der Kategorie realistisch. Allerdings ist bereits absehbar, dass die Zahl der Arbeitsplätze in der Windindustrie für 2019 infolge des starken Rückgangs an Bauprojekten niedriger ausfallen wird. 
Die Gesicherte Reservemarge verharrt bei 4,7%, da die Übertragungsnetzbetreiber seit 2018 keine neuen Zahlen veröffentlicht haben. Damit wird die Zielerfüllung als realistisch eingestuft. Allerdings ist davon auszugehen, dass durch den Ausstieg aus der Kernenergie bis Ende 2022 sowie den geplanten Kohleausstieg weitere gesicherte Kapazität sukzessive wegfällt. Dies wird die Reservemarge ohne weitere Zubauten deutlich verschlechtern.

Zielerreichung für fünf Indikatoren unrealistisch

Die Ziele beim Ausbau der Transportnetze zu erreichen, ist weiterhin unrealistisch. Wegen der großen Verzögerungen hat die Bundesnetzagentur die Fertigstellungstermine für viele Projekte inzwischen offiziell nach hinten geschoben. Ging die Planung von 2016 noch von 7.274 km bis Ende 2024 aus, wurde das Ausbauziel inzwischen  auf 4.578 km heruntergeschraubt. Mit diesem Schritt bestätigt sich, was der Energiewende-Index seit Jahren anzeigt: Die Ausbauziele bei den Transportnetzen sind im aktuellen Tempo nicht realistisch zu erreichen. Erst ab 2025 nähern sich die Fertigstellungstermine wieder an die ursprünglichen Ziele an. Allerdings erfordert dies erhebliche Anstrengungen: Allein 2025 müssten dann mehr als 2.200 km auf einmal gebaut werden – eine Mammutaufgabe. 

Die Entwicklung beim Netzausbau ist ein ernstes Warnsignal für den Fortschritt der gesamten Energiewende, denn ohne ausreichende Netzinfrastruktur kann der erneuerbare Strom nicht beim Verbraucher ankommen. Auch um die neuen, späteren Fertigstellungstermine halten zu können, muss der Netzausbau forciert und der Genehmigungsstau zügig aufgelöst werden: Seit Ende 2016 sind pro Jahr gerade einmal 164 km hinzugekommen; benötigt wird jedoch auch bei der neuen Terminierung ein Ausbau von jährlich 990 km bis Ende 2025 – das Sechsfache der bisherigen Ausbaurate.

Trotz leichter Senkung des Primärenergieverbrauchs um 148 Petajoule (PJ) auf zuletzt 12.815 PJ ist das 2020-Ziel von 11.504 PJ noch in weiter Ferne. Das Ziel, den Energieverbrauch nachhaltig zu senken, wird verfehlt, die Effizienzsteigerungen reichen nicht aus. Im vergangenen Jahrzehnt ist der Primärenergieverbrauch um etwa 155 PJ pro Jahr gesunken. Diese Reduktion müsste sich jetzt auf jährlich 250 PJ – also um mehr als 60% – erhöhen, um die Zielmarke von 2030 zu erreichen.

Der neue Indikator Sektorkopplung: Verkehr, der die Anzahl zugelassener Elektrofahrzeuge misst, erreicht bei mindestens sieben Millionen geforderten Fahrzeugen bis 2030 derzeit nur einen Zielerreichungsgrad von 14%. Im zweiten Halbjahr 2019 ist der E-Fahrzeugbestand von 169.789 lediglich um etwa 43.000 auf 212.574 gestiegen. 

Die Kosten für Netzeingriffe stiegen erneut von 9,1 EUR pro MWh Stromproduktion aus Solar PV und Wind in 2018 auf 10,8 im ersten Halbjahr 2019. Der Indikator verbleibt damit in der Kategorie unrealistisch. 

Der durchschnittliche deutsche Haushaltsstrompreis ist weiterhin der höchste in der gesamten EU. Die Abweichung vom EU-Durchschnitt stieg von 45% im ersten Halbjahr 2019 noch einmal leicht auf 46% im zweiten Halbjahr. Der Indikator wird daher als dauerhaft unrealistisch eingestuft.

Der CO2e-Ausstoß verbessert sich durch die Reduktionserfolge im vergangenen Jahr von „unrealistisch“ auf „leichter Anpassungsbedarf“. Laut Schätzungen des Umweltbundesamtes betrugen die CO2e-Emissionen in Deutschland 2019 rund 805 Megatonnen (Mt), was eine spürbare Verringerung um 54 Mt innerhalb von nur einem Jahr bedeutet. Dazu beigetragen hat vor allem die erneuerbare Erzeugung bei gleichzeitiger Reduktion der Kohleverstromung. Im laufenden Jahr wird McKinsey zufolge die CO2-Bilanz voraussichtlich kurzfristig durch gestrichene Flüge, weniger Verkehr etc entlastet. Dabei handle es sich aber nicht um eine strukturelle Verbesserung im System. Nach Ende der Krise sei mit einem erneuten Anstieg der Emissionen zu rechnen.